9:00 Uhr - der Vorhang beginnt sich
zu den Klängen des Donauwalzers zu heben. Das „Theater der Emotionen“ kann
beginnen.
Auf diesen Moment haben sich viele wochenlang vorbereitet und jetzt ist er da. Zahllose Trainingskilometer in den
Beinen und immer den 10. April 2016 im Hinterkopf. Für mich waren die letzten
Tage an Spannung kaum zu übertreffen. Vor allem was
das Bühnenbild bei diesem Stück in 42 Akten zu bieten hat. Die Wetterprognose war
eine Achterbahn: zuerst „sonnig und kühl“, also Idealbedingungen, dann wurde es
immer mehr zu einem verregneten Szenario.
Doch es kam anderes, der Wettergott hatte Gnade mit uns Schauspielern.
Prolog
Bei der Anreise in der
U-Bahn ist immer eine eigene Stimmung, ein gewisses Kribbeln, aber auch ein paar
prüfende Blicke, wie die anderen so laufen. Am Weg zur
Kleidersackabgabe sind die unterschiedlichsten Rituale zu sehen: Einige
laufen sich konzentriert ein, andere suchen
verzweifelt ihren LKW, oder hören Musik um sich in Stimmung zu bringen. Zahllose
verbringen die Zeit in der Schlange vor den Dixis und beten, noch rechtzeitig
zum Start zu kommen. In Anbetracht des unsicheren
Wetters hatte ich für alle Varianten
vorgesorgt: Lang lang, oder kurz kurz oder kurz kurz mit Ärmlingen. So, Wolferl
jetzt musst Du Dich entscheiden: kurz kurz und ab in den Startbereich. Leichter
gesagt als getan. Ich musste an den anderen Schauspielern, an einigen Statisten
und natürlich am Publikum vorbei, um im Startblock 2 Aufstellung zu nehmen. Der
Countdown begann und der Vorhang hob sich.
Akt 1 Die Reichsbrücke: Alle müssen drüber, damit wir danach
das sensationelle Bild vom Start haben und morgen im Büro sagen können:
„Da bin ich“.
Akt 2 Lassallestraße: Es geht ein wenig
bergab und es gibt einen sehr guten Blick auf die Schlange an LäuferInnen, die sich durch
den zweiten Bezirk schlängelt. Die Fans unter den Frühaufstehern halten uns (und
sich) mit Glocken wach.
Akt 3 Praterstern: Links oder rechts herum? Auch wenn die Strecke sicher gleich lang ist, bin ich
froh den kürzeren Weg in die Prater Hauptallee zu nehmen.
Akt 4,5 Prater Hauptallee: Zum ersten Mal
betreten wir die Hauptkulisse des Marathons. Obwohl Tausende laufen, ist es
dennoch ruhig - fast zu ruhig. Die eine oder andere Bühne mit Musik und
Tänzerinnen treibt uns weiter Richtung Stadion und unterbricht die Stille. Noch
dürfen wir nicht zum Stadion abbiegen.
Akt 6 Stadionallee: Wir bewegen
uns wieder raus aus dem Prater Richtung Schüttelstraße. Das Highlight in
dieser Szene ist sicher der Würstelstand an der Ecke zur Schüttelstrasse. Es
spielt „Born to be alive“. Und ich frage mich, ob die Fans
am Stand noch von gestern sind oder ob es dort auch Frühstück gibt.
Akt 7, 8 Schüttelstraße: Hier hätte ich mir
eigentlich einen Großteil der angekündigten Million Zuseher erwartet. Platz
wäre ja und stimmungsmäßig bin ich an der Stelle auch bereit für einen Boost.
Leider nein, aber dafür werden uns die „Sinne belebt“ begleitet von einer genialen
Trommel Combo.
Akt 9, 10 Ring: Über die Brücke und ab auf den
Ring. Ja es ist ein gutes Gefühl, wenn die Läufer den Ring
erobern - fast alle haben ein Lächeln
auf den Lippen. Ein Torbogen nach dem anderen, dann
Schwarzenbergplatz und die Oper. Das Epizentrum der Stimmung auf der ersten
Hälfte. Ich
kann das Ziel riechen, aber damit der Geruch nicht zu intensiv wird, heißt es
abbiegen.
Akt 11, 12, 13 Linke Wienzeile Teil 1: Diesen Teil
absolviere ich im Alltag mit der U-Bahn. Wir dürfen dieses Stück
laufen. Das Bühnenbild zeigt uns
die Secession, das Theater an der Wien und natürlich den Naschmarkt. Erinnerung
an gemütliche Frühstücke
am Wochenende kommen
auf. Dann kommt der eher monotone Teil der
Strecke bis zum Gürtel.
Akt 14, 15, 16 Linke Wienzeile Teil 2: Zur
Abwechslung kommt jetzt ein wenig Wind auf. Die Stimmung unter den Läufern ändert sich langsam. Die Staffelläufer
sind schon stark im Schwitzen und freuen sich auf ihre Ablöser. Die Halbmarathonis kommen ins letzte Viertel. Die
Marathonis sind noch weitgehend entspannt.
Akt 17, 18 Mariahilfer Straße Teil 1: Technisches
Museum und Staffelübergabe. Unruhe kommt auf. Die Staffelteilnehmer versuchen
mit der letzten Energie zu signalisieren „Hier bin ich, wo ist mein „B“?“. Die
meisten schaffen es dann doch noch sich zusammenzufinden und es sind wieder
„frische“ Läufer auf der Strecke. Ich
darf mich davon nicht mitreißen
lassen, sonst könnte es am Ende ungemütlich werden. Der erste Teil der
Mariahilfer Strasse ist auch der „Berg“ der Strecke. Unter normalen Umständen
fällt es gar nicht auf, aber heute geht es steil bis zum Westbahnhof.
Akt 19, 20 Mariahilfer Straße Teil 2: Westbahnhof,
es geht bergab. Das war hart verdient. Zum ersten
Mal kaum Autos und keine Baustelle - die Begegnungszone hat heute eine andere
Bedeutung. Gut, dass das Tempo auf 20km/h beschränkt ist, das sollte auch für
die Spitzengruppe reichen. Nun steht
die Trennung bevor: Die Halbmarathonis laufen zum Ring, für mich geht es
weiter Richtung Universität.
Akt 21, 22 „Zweier Linie“: Der neue Teil der
Strecke. Es geht auf den Halbmarathon zu. Auf einmal ist mehr Platz, das Feld
lichtet sich und es wird klar, dass alle um mich den langen Weg zum Burgtheater
nehmen. Die Gesichter zeigen ganz unterschiedliche Stimmungslagen. Manche sind
total glücklich und zuversichtlich, aufrecht ins Ziel zu kommen. Ein paar
andere überlegen schon laut vielleicht einen Gang zurückzuschalten. Mir geht es
noch gut, den Umständen entsprechend.
Akt 23 Liechtensteinstraße: Ich freue mich. Mein
kleiner, aber feiner Fanclub
jubelt mir beim Schottentor zu. Ich bin gut im Zeitplan und versuche zu
lächeln. Das bin ich meinen Fans schuldig. Übrigens habe ich das Vergnügen, nur
weibliche Fans zu haben und das in jeder Alterklasse: Frau mit Tochter im Arm
und meine Mutter haben sich an die Strecke gestellt.
Akt 24 Alserbachstraße: Kurve beim Palais
Liechtenstein und Blick Richtung Donaukanal. Der Donaukanal ist meine heimliche
Liebe beim Laufen (was natürlich die Hauptallee nicht erfahren darf). Daher
vergeht es jetzt wie im Flug und ich bin auf der Oberen Donaustraße.
Akt 25, 26 Obere Donaustraße: Im Training laufe ich einen Stock tiefer beim Wasser. Allerdings ist das Laufen auf der
Straße und noch dazu gegen die Einbahn viel besser. Im Gleichschritt läuft eine Gruppe auf den
Uniqa Tower zu. Vor dem Tower ist eine Video
Wall zu sehen. Darauf spielt sich gerade der Zieleinlauf der Elite ab.
Der Sieger ist im Ziel. Unglaublich. Unvorstellbar. Ok, die Elite hatte auch
eine Minute Vorsprung, aber was die daraus gemacht haben - alle Achtung!
Akt 27 Praterstraße: Es geht wieder zurück in den
Prater, standesgemäß auf der Praterstraße. Die Beine werden spürbar schwerer. Da
ruft eine motivierte Gruppe aus dem Publikum: „Lächeln - es ist nicht mehr
weit“. Ich lächle und denke: "Stimmt, 15 km ist ein mittellanger Lauf und im besten Fall sollte es kürzer sein als
ein Fußball-Match."
Akt 28, 29 Prater: Ich bin zurück. 25 Kilometer
später wieder im Prater. Die Stimmung ist mit dem
Beginn des Laufes nicht zu vergleichen. Hier und jetzt spielen sich die entscheiden Szenen
des Stückes ab. Die 8 Kilometer haben das Potential aus einer Komödie eine
Tragödie zu machen.
Akt 30 Stadion: Es ist eine der härtesten Teile
der Vorstellung: Die Stadionschleife. Kurz und klar: Ich
mag diesen Akt nicht. Alle müssen zum Stadion hinauf, um zu wenden und wieder
zurück auf die Hauptallee. Heute hat es mich allerdings versöhnlich gestimmt, weil mein Fan-Club
hergekommen ist und mir einen Motivationsschub für das Finale gibt. Ja, nach
Kilometer 30 beginnt die zweite Hälfte des Marathons.
Akt 31, 32 Hauptallee hinauf: Es geht Richtung
Lusthaus. Die meisten Wiener kennen diesen
Teil der Strecke vom Training. Das Lusthaus ist immer das Licht
am Ende des „Baum“-Tunnels. Wieder schaue ich auf die Gegenfahrbahn. Bekannte
Gesichter auf der anderen Seite. Zu diesem Zeitpunkt beginnen viele zu rechnen.
Es sind noch circa 10 km wenn ich ... dann ...
Akt 33, 34, 35 Hauptallee hinunter: Lusthaus. Wende.
Es geht zurück - es geht zum Ziel. Zurück auf der Hauptallee natürlich mit
erhobener Brust. Alle, die mir jetzt entgegenkommen
habe ich „abgehängt“. Jeder Schritt bedeutet zwei Schritte Vorsprung auf einen Läufer auf der anderen Spur.
Abgerechnet wird allerdings erst im Ziel. Ab jetzt werden die Karten neu
gemischt. Wer in Hälfte eins diszipliniert war, wird jetzt die Ernte einfahren.
Akt 36 Stadionallee: Raus aus dem Prater. Kein
Drama, es läuft noch rund. Es geht wieder Richtung
Würstelstand. Langsam wird es lauter
und hörbarer. „Highway to hell“, wie passend. Eine Frau hält plötzlich die Hand
für High-Five in die Luft. Mit einer sensationellen Reaktion klatsche ich ab.
Hätte ich das nicht geschafft, wäre die Hand in meinem Gesicht gelandet. Ich
nehme es nicht persönlich.
Akt 37, 38 Schüttelstraße: Die Belebung der
Schüttelstraße dürfte auch in den letzten Stunden nicht gelungen sein.
Vereinzelt ein wenig Publikum, aber es ist ruhig genug, um mit der Zielmeditation
zu beginnen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so gefreut, zum Burgtheater zu kommen.
Akt 39 Radetzkystraße: Im Slalom auf
Schienen durch den dritten Bezirk. Es läuft nicht mehr ganz so wie auf
Schienen, aber da der Blick jetzt mehr auf den Boden gerichtet ist, helfen die
Schienen bei der Navigation.
Akt 40 Vordere Zollamtstraße: Jetzt wird es hart, vor allem für Stammgäste der Veranstaltung. Der Marathon ist durch die Streckenänderung
nicht länger geworden, aber gefühlt ist er heute länger. Jetzt nur nicht locker
lassen. Über die Brücke und zurück auf den Ring. Das Finish kann beginnen.
Akt 41, 42 Ring: Die letzten zwei Kilometer haben
wieder den Charakter einer Bergetappe. Es geht hinauf zur Oper und dann steil
in der Kurve zur Hofburg. Das Ganze wird durch die Stimmung erleichtert. Vorbei an den
Museen, das Parlament im Fokus. Ich gebe nochmal alles, zumindest versuche ich
es. Biege ein in den Zielkanal. Noch 500, noch 400 noch 300.
Akt 42,195 Burgtheater: Der Schluss des Marathons
ist wie immer perfekt inszeniert. Roter Teppich. Tribünen links und rechts. Zuerst
ist die Uhr kaum zu erkennen, dann wird die Zeit immer lesbarer. Auch Fotografen
nehmen mich ins Visier. Ich versuche zu lächeln. Die letzten 200m vergehen
immer wie im Flug. Es ist wie ein Flash und auf einmal bin ich im Ziel.
Geschafft. Ich erinnere mich gerade an den Spruch „Der Schmerz geht und der
Stolz bleibt“. Momentan fühlt es sich jedoch so an, als würde beides bleiben.
Epilog:
Um die Schmerzen zu lindern, bekomme ich die
Medaille umgehängt. Ich versuche mich im neuen Zielbereich zurecht zu finden. Wasser gefunden,
Bier gefunden und Zielsack bekommen. Der ist so schwer, ich bin wirklich
überrascht. Oder ich bin einfach noch zu schwach.
Jetzt heißt es LKW suchen und umziehen. Mit
einigen kleinen Pausen, weil es dort und da zwickt und technischer
Unterstützung, weil noch nicht alle Bewegungsabläufe funktionieren, bin ich
bereit für den Heimweg. Natürlich mit der Medaille um den Hals. Und dort bleibt
sie auch. Zumindest heute am Tag des Marathons.
toller beitrag & gratuliere zum finish!
AntwortenLöschenhast das theater der emotionen wirklich genau beschrieben!
Danke!
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