Donnerstag, 14. April 2016

Das Theater der Emotionen in 42,195 Akten



9:00 Uhr - der Vorhang beginnt sich zu den Klängen des Donauwalzers zu heben. Das „Theater der Emotionen“ kann beginnen.


Auf diesen Moment haben sich viele wochenlang vorbereitet und jetzt ist er da. Zahllose Trainingskilometer in den Beinen und immer den 10. April 2016 im Hinterkopf. Für mich waren die letzten Tage an Spannung kaum zu übertreffen. Vor allem was das Bühnenbild bei diesem Stück in 42 Akten zu bieten hat. Die Wetterprognose war eine Achterbahn: zuerst „sonnig und kühl“, also Idealbedingungen, dann wurde es immer mehr zu einem verregneten Szenario. Doch es kam anderes, der Wettergott hatte Gnade mit uns Schauspielern.


Prolog
Bei der Anreise in der U-Bahn ist immer eine eigene Stimmung, ein gewisses Kribbeln, aber auch ein paar prüfende Blicke, wie die anderen so laufen. Am Weg zur Kleidersackabgabe sind die unterschiedlichsten Rituale zu sehen: Einige laufen sich konzentriert ein, andere suchen verzweifelt ihren LKW, oder hören Musik um sich in Stimmung zu bringen. Zahllose verbringen die Zeit in der Schlange vor den Dixis und beten, noch rechtzeitig zum Start zu kommen. In Anbetracht des unsicheren Wetters hatte ich für alle Varianten vorgesorgt: Lang lang, oder kurz kurz oder kurz kurz mit Ärmlingen. So, Wolferl jetzt musst Du Dich entscheiden: kurz kurz und ab in den Startbereich. Leichter gesagt als getan. Ich musste an den anderen Schauspielern, an einigen Statisten und natürlich am Publikum vorbei, um im Startblock 2 Aufstellung zu nehmen. Der Countdown begann und der Vorhang hob sich.


Akt 1 Die Reichsbrücke: Alle müssen drüber, damit wir danach das sensationelle Bild vom Start haben und morgen im Büro sagen können: „Da bin ich“.


Akt 2 Lassallestraße: Es geht ein wenig bergab und es gibt einen sehr guten Blick auf die Schlange an LäuferInnen, die sich durch den zweiten Bezirk schlängelt. Die Fans unter den Frühaufstehern halten uns (und sich) mit Glocken wach.


Akt 3 Praterstern: Links oder rechts herum? Auch wenn die Strecke sicher gleich lang ist, bin ich froh den kürzeren Weg in die Prater Hauptallee zu nehmen.


Akt 4,5 Prater Hauptallee: Zum ersten Mal betreten wir die Hauptkulisse des Marathons. Obwohl Tausende laufen, ist es dennoch ruhig - fast zu ruhig. Die eine oder andere Bühne mit Musik und Tänzerinnen treibt uns weiter Richtung Stadion und unterbricht die Stille. Noch dürfen wir nicht zum Stadion abbiegen.


Akt 6 Stadionallee: Wir bewegen uns wieder raus aus dem Prater Richtung Schüttelstraße. Das Highlight in dieser Szene ist sicher der Würstelstand an der Ecke zur Schüttelstrasse. Es spielt „Born to be alive“. Und ich frage mich, ob die Fans am Stand noch von gestern sind oder ob es dort auch Frühstück gibt.


Akt 7, 8 Schüttelstraße: Hier hätte ich mir eigentlich einen Großteil der angekündigten Million Zuseher erwartet. Platz wäre ja und stimmungsmäßig bin ich an der Stelle auch bereit für einen Boost. Leider nein, aber dafür werden uns die „Sinne belebt“ begleitet von einer genialen Trommel Combo.


Akt 9, 10 Ring: Über die Brücke und ab auf den Ring. Ja es ist ein gutes Gefühl, wenn die Läufer den Ring erobern - fast alle haben ein Lächeln auf den Lippen. Ein Torbogen nach dem anderen, dann Schwarzenbergplatz und die Oper. Das Epizentrum der Stimmung auf der ersten Hälfte. Ich kann das Ziel riechen, aber damit der Geruch nicht zu intensiv wird, heißt es abbiegen.


Akt 11, 12, 13 Linke Wienzeile Teil 1: Diesen Teil absolviere ich im Alltag mit der U-Bahn. Wir dürfen dieses Stück laufen. Das Bühnenbild zeigt uns die Secession, das Theater an der Wien und natürlich den Naschmarkt. Erinnerung an gemütliche Frühstücke am Wochenende kommen auf.  Dann kommt der eher monotone Teil der Strecke bis zum Gürtel.


Akt 14, 15, 16 Linke Wienzeile Teil 2: Zur Abwechslung kommt jetzt ein wenig Wind auf. Die Stimmung unter den Läufern ändert sich langsam. Die Staffelläufer sind schon stark im Schwitzen und freuen sich auf ihre Ablöser. Die Halbmarathonis kommen ins letzte Viertel. Die Marathonis sind noch weitgehend entspannt.


Akt 17, 18 Mariahilfer Straße Teil 1: Technisches Museum und Staffelübergabe. Unruhe kommt auf. Die Staffelteilnehmer versuchen mit der letzten Energie zu signalisieren „Hier bin ich, wo ist mein „B“?“. Die meisten schaffen es dann doch noch sich zusammenzufinden und es sind wieder „frische“ Läufer auf der Strecke.  Ich darf mich davon nicht mitreißen lassen, sonst könnte es am Ende ungemütlich werden. Der erste Teil der Mariahilfer Strasse ist auch der „Berg“ der Strecke. Unter normalen Umständen fällt es gar nicht auf, aber heute geht es steil bis zum Westbahnhof.


Akt 19, 20 Mariahilfer Straße Teil 2: Westbahnhof, es geht bergab. Das war hart verdient. Zum ersten Mal kaum Autos und keine Baustelle - die Begegnungszone hat heute eine andere Bedeutung. Gut, dass das Tempo auf 20km/h beschränkt ist, das sollte auch für die Spitzengruppe reichen. Nun steht die Trennung bevor: Die Halbmarathonis laufen zum Ring, für mich geht es weiter Richtung Universität.


Akt 21, 22 „Zweier Linie“: Der neue Teil der Strecke. Es geht auf den Halbmarathon zu. Auf einmal ist mehr Platz, das Feld lichtet sich und es wird klar, dass alle um mich den langen Weg zum Burgtheater nehmen. Die Gesichter zeigen ganz unterschiedliche Stimmungslagen. Manche sind total glücklich und zuversichtlich, aufrecht ins Ziel zu kommen. Ein paar andere überlegen schon laut vielleicht einen Gang zurückzuschalten. Mir geht es noch gut, den Umständen entsprechend.


Akt 23 Liechtensteinstraße: Ich freue mich. Mein kleiner, aber feiner Fanclub jubelt mir beim Schottentor zu. Ich bin gut im Zeitplan und versuche zu lächeln. Das bin ich meinen Fans schuldig. Übrigens habe ich das Vergnügen, nur weibliche Fans zu haben und das in jeder Alterklasse: Frau mit Tochter im Arm und meine Mutter haben sich an die Strecke gestellt. 


Akt 24 Alserbachstraße: Kurve beim Palais Liechtenstein und Blick Richtung Donaukanal. Der Donaukanal ist meine heimliche Liebe beim Laufen (was natürlich die Hauptallee nicht erfahren darf). Daher vergeht es jetzt wie im Flug und ich bin auf der Oberen Donaustraße.




Akt 25, 26 Obere DonaustraßeIm Training laufe ich einen Stock tiefer beim Wasser. Allerdings ist das Laufen auf der Straße und noch dazu gegen die Einbahn viel besser.  Im Gleichschritt läuft eine Gruppe auf den Uniqa Tower zu. Vor dem Tower ist eine Video Wall zu sehen. Darauf spielt sich gerade der Zieleinlauf der Elite ab. Der Sieger ist im Ziel. Unglaublich. Unvorstellbar. Ok, die Elite hatte auch eine Minute Vorsprung, aber was die daraus gemacht haben - alle Achtung!


Akt 27 Praterstraße: Es geht wieder zurück in den Prater, standesgemäß auf der Praterstraße. Die Beine werden spürbar schwerer. Da ruft eine motivierte Gruppe aus dem Publikum: „Lächeln - es ist nicht mehr weit“. Ich lächle und denke: "Stimmt, 15 km ist ein mittellanger Lauf und im besten Fall sollte es kürzer sein als ein Fußball-Match."

Akt 28, 29 Prater: Ich bin zurück. 25 Kilometer später wieder im Prater. Die Stimmung ist mit dem Beginn des Laufes nicht zu vergleichen. Hier und jetzt spielen sich die entscheiden Szenen des Stückes ab. Die 8 Kilometer haben das Potential aus einer Komödie eine Tragödie zu machen.

Akt 30 Stadion: Es ist eine der härtesten Teile der Vorstellung: Die Stadionschleife. Kurz und klar: Ich mag diesen Akt nicht. Alle müssen zum Stadion hinauf, um zu wenden und wieder zurück auf die Hauptallee. Heute hat es mich allerdings versöhnlich gestimmt, weil mein Fan-Club hergekommen ist und mir einen Motivationsschub für das Finale gibt. Ja, nach Kilometer 30 beginnt die zweite Hälfte des Marathons.


Akt 31, 32 Hauptallee hinauf: Es geht Richtung Lusthaus. Die meisten Wiener kennen diesen Teil der Strecke vom Training. Das Lusthaus ist immer das Licht am Ende des „Baum“-Tunnels. Wieder schaue ich auf die Gegenfahrbahn. Bekannte Gesichter auf der anderen Seite. Zu diesem Zeitpunkt beginnen viele zu rechnen. Es sind noch circa 10 km wenn ich ... dann ...


Akt 33, 34, 35 Hauptallee hinunter: Lusthaus. Wende. Es geht zurück - es geht zum Ziel. Zurück auf der Hauptallee natürlich mit erhobener Brust. Alle, die mir jetzt entgegenkommen habe ich „abgehängt“. Jeder Schritt bedeutet zwei Schritte Vorsprung auf einen Läufer auf der anderen Spur. Abgerechnet wird allerdings erst im Ziel. Ab jetzt werden die Karten neu gemischt. Wer in Hälfte eins diszipliniert war, wird jetzt die Ernte einfahren.


Akt 36 Stadionallee: Raus aus dem Prater. Kein Drama, es läuft noch rund. Es geht wieder Richtung Würstelstand. Langsam wird es lauter und hörbarer. „Highway to hell“, wie passend. Eine Frau hält plötzlich die Hand für High-Five in die Luft. Mit einer sensationellen Reaktion klatsche ich ab. Hätte ich das nicht geschafft, wäre die Hand in meinem Gesicht gelandet. Ich nehme es nicht persönlich.


Akt 37, 38 Schüttelstraße: Die Belebung der Schüttelstraße dürfte auch in den letzten Stunden nicht gelungen sein. Vereinzelt ein wenig Publikum, aber es ist ruhig genug, um mit der Zielmeditation zu beginnen. Ich habe mich schon lange nicht mehr so gefreut, zum Burgtheater zu kommen.


Akt 39 Radetzkystraße: Im Slalom auf Schienen durch den dritten Bezirk. Es läuft nicht mehr ganz so wie auf Schienen, aber da der Blick jetzt mehr auf den Boden gerichtet ist, helfen die Schienen bei der Navigation.


Akt 40 Vordere Zollamtstraße: Jetzt wird es hart, vor allem für Stammgäste der Veranstaltung. Der Marathon ist durch die Streckenänderung nicht länger geworden, aber gefühlt ist er heute länger. Jetzt nur nicht locker lassen. Über die Brücke und zurück auf den Ring. Das Finish kann beginnen.


Akt 41, 42 Ring: Die letzten zwei Kilometer haben wieder den Charakter einer Bergetappe. Es geht hinauf zur Oper und dann steil in der Kurve zur Hofburg. Das Ganze wird durch die Stimmung erleichtert. Vorbei an den Museen, das Parlament im Fokus. Ich gebe nochmal alles, zumindest versuche ich es. Biege ein in den Zielkanal. Noch 500, noch 400 noch 300.


Akt 42,195 Burgtheater: Der Schluss des Marathons ist wie immer perfekt inszeniert. Roter Teppich. Tribünen links und rechts. Zuerst ist die Uhr kaum zu erkennen, dann wird die Zeit immer lesbarer. Auch Fotografen nehmen mich ins Visier. Ich versuche zu lächeln. Die letzten 200m vergehen immer wie im Flug. Es ist wie ein Flash und auf einmal bin ich im Ziel. Geschafft. Ich erinnere mich gerade an den Spruch „Der Schmerz geht und der Stolz bleibt“. Momentan fühlt es sich jedoch so an, als würde beides bleiben.


Epilog:
Um die Schmerzen zu lindern, bekomme ich die Medaille umgehängt. Ich versuche mich im neuen Zielbereich zurecht zu finden. Wasser gefunden, Bier gefunden und Zielsack bekommen. Der ist so schwer, ich bin wirklich überrascht. Oder ich bin einfach noch zu schwach.
Jetzt heißt es LKW suchen und umziehen. Mit einigen kleinen Pausen, weil es dort und da zwickt und technischer Unterstützung, weil noch nicht alle Bewegungsabläufe funktionieren, bin ich bereit für den Heimweg. Natürlich mit der Medaille um den Hals. Und dort bleibt sie auch. Zumindest heute am Tag des Marathons.

2 Kommentare:

  1. toller beitrag & gratuliere zum finish!
    hast das theater der emotionen wirklich genau beschrieben!

    AntwortenLöschen